Immer mehr Schweizer schlucken Medi`s

Der massenhafte Konsum von Schmerzmitteln und Anti- depressiva sowie teure Spezialpräparate treiben die Kosten in die Höhe.

Gut über eine Million Menschen in der Schweiz nahmen im letzten Jahr Medikamente gegen Depression, Angststörungen und andere psychische Erkrankungen ein. In der Rangliste der am häufigsten bezogenen Präparate rangieren Psychopharmaka auf Platz zwei.

Mengenmässiger Spitzenreiter unter den Medikamenten sind Schmerzmittel mit fast 8 Millionen bezogenen Packungen. In den Krankenkassenabrechnungen schlagen sie mit 219 Mio. Fr. zu Buche – obwohl die Packung heute oft weniger als ein Becher Kaffee kostet. 2,4 Millionen Menschen verlassen sich auf die Schmerzkiller. Dafalgan ist das meistgenutzte Medikament der Schweiz.

 

Neue biotechnisch hergestellte Medikamente wie Humira, die in das körpereigene Immunsystem eingreifen, bringen knapp 7000 Patienten Linderung. Aufgrund des hohen Preises führt Humira die Rangliste der Medikamente an, die die höchsten Kosten für die Krankenkassen verursachen (siehe Grafik).

 

Mehr Pillen

Die Beispiele stammen aus einem Bericht, den die grösste Schweizer Krankenversicherung Helsana in Zusammenarbeit mit dem Unispital Basel und dem Institut für Pharmazeutische Medizin der Universität Basel erarbeitet hat. Der Helsana-Arzneimittelreport wird ab Montag öffentlich zugänglich sein. Der 200 Seiten starke Bericht fördert einige erstaunliche Fakten über die Nutzung von Medikamenten in der Schweiz zutage.

«Wir wollen ein Nachschlagewerk zum Thema Medikamenteneinsatz, Entwicklungen und Kosten bieten und die Diskussion um Kosten und Nutzen anregen», erklärt Oliver Reich, Leiter Gesundheitswissenschaften bei Helsana. Als Basis dienten die Daten der 1,9 Millionen Helsana-Versicherten, die gemäss obligatorische Krankenpflegeversicherung (OKP) in der Grundversicherung erfasst sind. Ergänzt mit Daten des Bundesamtes für Statistik, wurden so Hochrechnungen für die ganze Bevölkerung erstellt.

«Wir haben sehr gute Daten und wollen für die Öffentlichkeit mehr Transparenz schaffen», sagt Reich. Das Unterfangen ist auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass bisher vor allem die Interessenorganisation der Pharmaindustrie, Interpharma, immer wieder Zahlen zur Kostenentwicklung des Medikamentenmarktes Schweiz aufbereitete. Logischerweise liegt dabei der Fokus auf jenen Aspekten, die die Argumente der Industrie unterstützen.

Der Report kommt nun tatsächlich zu einem brisanten Schluss in Bezug auf die Kostenentwicklung jener Medikamente, die die Kassen in der Grundversicherung bezahlen müssen – also alle ambulant verschriebenen Präparate. Ausgeklammert bleiben Medikamente, die im stationären Spital- oder Pflegebetrieb zum Einsatz kommen. Für den untersuchten ambulanten Bereich stiegen die Kosten in den letzten vier Jahren (2010 bis 2013) um 17% auf 6,1 Mrd. Fr.

Der Betrag entspricht 9,2% der Ausgaben im gesamten Gesundheitswesen. In der obligatorischen Krankenversicherung fressen diese Medikamentenkosten einen Viertel der Prämien (23%).

Treiber scheint vor allem eine Mengenausweitung zu sein. Die Zahl der Menschen, die Medikamente einnehmen, stieg von 5,5 Millionen im Jahr 2010 auf 6 Millionen im 2013. Darüber hinaus erhöhte sich im Durchschnitt auch die Menge der Präparate, die sie bezogen. Reich bestätigt: «Die Leute nehmen mehr Medikamente.» Das ansteigende Durchschnittsalter der Bevölkerung könnte die Ursache dieser Entwicklung sein. Oft stellen sich mit dem Alter mehrere und chronische Krankheiten ein.

Die grössten Sorgen bereitet dem Krankenversicherer die starke Zunahme von biotechnisch produzierten Medikamenten, die häufig gegen Autoimmunkrankheiten und Krebs zur Anwendung kommen. Sie werden neuerdings vermehrt in Spitalambulatorien verabreicht. Zwar kommen sie nur bei einer vergleichsweise kleinen Patientengruppe zum Einsatz, aber aufgrund ihrer sehr hohen Preise verursachen sie massive Kosten für die Sozialversicherung. Setze sich der Trend fort, sei die Finanzierbarkeit und Gewährleistung des Zugangs von Therapien für alle Patienten infrage gestellt, warnt Reich. Er betont in Bezug auf diese hochpreisigen Produkte: «Wir fokussieren nicht einseitig auf die Kosten. Aber es fehlt in der Schweiz eine solide Grundlage, um den systemweiten Nutzen, den die Produkte stiften, ausreichend genau beurteilen zu können.»

 

Stoff für Diskussionen

Der von Helsana ermittelte Kostenzuwachs im ambulanten Medikamentenbereich hat politische Sprengkraft. Denn die Angaben decken sich nicht mit einer Botschaft, die Interpharma seit einigen Jahren verbreitet. Laut Pharmaverband hätten sich die Ausgaben für den gesamten Medikamentenmarkt Schweiz in den letzten Jahren nicht mehr erhöht und für den ambulanten Teil nur geringfügig.

Interpharma-Geschäftsführer Thomas Cueni kann die vorgelegten Helsana-Ergebnisse deshalb nicht nachvollziehen: «Diese Hochrechnung scheint mir abenteuerlich und unseriös.» Er führt aus, das Bundesamt für Gesundheit (BAG) habe erst kürzlich neue Statistiken zur obligatorischen Krankenpflegeversicherung publiziert. Demnach seien die Medikamentenkosten im ambulanten Bereich im Durchschnitt der letzten zehn Jahre jährlich um 2,4% gestiegen. «Dabei war das Wachstum in den letzten vier Jahren noch schwächer. Die Aussagen der BAG-Statistiken decken sich mit den Erhebungen, die das Marktforschungsinstitut IMS Health durchgeführt hat», betont Cueni.

Reich erklärt sich die abweichenden Resultate teilweise mit unterschiedlichen Ansätzen beim Erfassen der Kosten. Die Pharmaproduzenten rechneten mit Fabrikpreisen, die Krankenkassen hingegen mit den Verkaufspreisen für den Patienten am Ende einer Vertriebskette. «Einen Teil der Diskrepanz zu den Interpharma-Zahlen kann man zudem durch Verschiebungen aus dem stationären in den ambulanten Spitalbereich erklären, sagt Reich. «Aber längst nicht alles.»

(Neue Zürcher Zeitung / Birgit Voigt)

Link: Artikel Tagesanzeiger