Die unterschätzte Gefahr

Die unterschätzte Gefahr

Alltägliche Medikamente wie Heuschnupfenmittel sind im Strassenverkehr ein Risiko
BAZ 12.06.2012 Dina Sambar

Gräserpollen haben Hochkonjunktur. Zurzeit dürften Heuschnupfenmittel zu den am häufigsten eingenommenen Medikamenten gehören. Was den meisten aber nicht bewusst ist: Wer Antihistamin-Tabletten schluckt und Auto fährt, erhöht das Unfallrisiko. Und das gilt für viele Medikamente. Die Deutsche Verkehrswacht warnt, dass bei jedem vierten Verkehrsunfall Medikamente als Mitverursacher im Spiel sind. Heuschnupfentabletten haben beispielsweise eine dämpfende Wirkung und führen zu erhöhter Müdigkeit sowie verzögertem Reaktionsvermögen: «Sekundenschlaf ist im Strassenverkehr sowieso eine Gefahr. Durch solche Medikamente wird diese Gefahr entsprechend stark erhöht», sagt der Baselbieter Kantonsapotheker Hans-Martin Grünig.

 

Bei längeren Fahrten verzichten
Da die verschiedenen Präparate unterschiedlich müde machen und der Grad der Müdigkeit sehr individuell ist, muss jedoch jeder Autofahrer selber einschätzen, ob er noch fit genug ist für den Strassenverkehr. Trotzdem hat Grünig einen Tipp: «Für längere Fahrten würde ich auf solche Tabletten verzichten. Lokale Heuschnupfenmittel wie Kortison-Nasentropfen sind hingegen kein Problem.» Heuschnupfenmittel sind nur ein Beispiel für alltägliche Medikamente, welche die Fahrtauglichkeit beeinträchtigen. Jedes fünfte Medikament soll die Fahrfähigkeit beeinträchtigen – eine Zahl, die Grünig für realistisch hält. Auch gängige Husten- und Erkältungsmittel, Mittel gegen Reisekrankheit und rezeptfreie Beruhigungsmittel (auch pflanzliche) können eine solche Wirkung haben. «Die Problematik der Medikamente am Steuer wird eindeutig unterschätzt. Die meisten Leute sind sich der Gefahr nicht bewusst », sagt Grünig. Zudem könne die Beeinträchtigung bereits mit geringen Mengen Alkohol stark zunehmen. Ein besonders hohes Risiko besteht bei Schlaf- und Beruhigungsmitteln, Psychopharmaka, Antiepileptika, starken Schmerzmitteln, Blutdrucksenkern, Herz-Kreislauf-Präparaten und Antidiabetika. Beeinträchtigende Nebenwirkungen können nebst Müdigkeit auch Schwindel, Benommenheit, Seh- oder Kreislaufstörungen sein. Stimulanzien wie Ritalin, das immer mehr von Erwachsenen als Aufputschmittel eingenommen wird, kann zu einer aggressiveren Fahrweise und erhöhter Risikobereitschaft führen. «Es ist wichtig zu wissen, dass gewisse Medikamente, insbesondere Schlafmittel, oft eine lange Wirkdauer haben und die Beeinträchtigungen noch viele Stunden nach der Einnahme relevant sein können», sagt Grünig. Kaum problematisch sind freiverkäufliche Schmerzmittel wie Aspirin oder Paracetamol-Präparate.

Kombination mit Alkohol
Auch die Baselbieter Polizei weiss, dass Medikamente, nebst Alkohol und Betäubungsmitteln, zu den Stoffen gehören, welche die Fahrfähigkeit erheblich beeinträchtigen können. Für Medikamente gibt es allerdings keine einfachen, standardmässig verwendbaren Vortests: «Die Polizei lenkt die Untersuchung in der Regel dann auf Medikamente, wenn eine offensichtliche Beeinträchtigung der Fahrfähigkeit vorliegt, die aber nicht auf Alkohol- oder Betäubungsmittelkonsum zurückzuführen ist», sagt Meinrad Stöcklin, Sprecher der Baselbieter Polizei. In solchen Fällen werde auf Anordnung der Staatsanwaltschaft hin je eine Blut- und Urinprobe erhoben und durch das Institut für Rechtsmedizin auf Medikamente untersucht. Solche Untersuchungen kommen in der Praxis, laut Stöcklin, jedoch nicht häufig vor. Laut der Baselbieter Verkehrsunfallstatistik 2011 starben zwei Personen bei Unfällen, bei denen Medikamente als (Mit-)Ursache eruiert wurden – 16 Personen wurden verletzt. «Diese relativ kleine Zahl ist, wie alle kleineren Zahlen in der Unfallstatistik, grossen Schwankungen unterworfen. Deshalb kann man keine konkrete Angaben machen», sagt Stöcklin. Klar sei aber: Viel häufiger sind bei eingeschränkter Fahrfähigkeit Alkohol und Betäubungsmittel im Spiel. Hans-Martin Grünig ist jedoch sicher, dass es eine grosse Dunkelziffer gibt: «Medikamente sind gerade in Kombination mit Alkohol ein grosses Problem. Sie können das Tüpfelchen auf dem i sein.» Sein Appell: Bei Unsicherheit den Arzt oder den Apotheker fragen und gegebenenfalls auf das Auto verzichten. Denn: «Wer Medikamente einnimmt und sich nicht über mögliche Nebenwirkungen informiert, handelt vor dem Gesetz fahrlässig. Bei Unfällen, die sich aufgrund von Medikamenteneinnahmen ereignen, kann der Versicherungsschutz entfallen.»