Vorsicht mit Medikamenten am Steuer

Medikamente im Strassenverkehr !

«Gefahr: Fahren Sie nicht Auto»: Die EU will die Verkehrssicherheit erhöhen, indem sie Medikamente
je nach Gefährdungsstufe mit einem farbigen Piktogramm versieht. Die Schweiz steht abseits. Von Irène Dietschi

«Es ist ein Trauerspiel, die Schweiz hat hier argen Nachholbedarf», sagt Richard Egger, der Chefapotheker des Kantonsspitals Aarau. Wie Autolenker hierzulande über den Einfluss von Medikamenten auf das Fahrverhalten informiert werden, hält er für ungenügend. Während unsere Nachbarländer damit begonnen haben, die Medikamente mit differenzierten Warnhinweisen zu versehen, verweist man in der Schweiz auf die «Eigenverantwortlichkeit» und begnügt sich mit der Packungsbeilage. Die Fachinformationen des schweizerischen Arzneimittelkompendiums sind allerdings so vage und allgemein formuliert, dass sie im Alltag nicht viel nützen. In der Packungsbeilage eines häufig verkauften Beruhigungsmittels zum Beispiel steht: «. . . kann die Reaktionsfähigkeit, die Fahrtüchtigkeit und die Fähigkeit, Werkzeuge oder Maschinen zu bedienen, beeinträchtigen! Deshalb sollten Sie das Lenken von Motorfahrzeugen und das Bedienen von Maschinen so lange unterlassen, bis feststeht, dass das Arzneimittel Sie tagsüber weder schläfrig noch schwindlig macht und dass Ihre Aufmerksamkeit und Ihr Reaktionsvermögen nicht beeinträchtigt sind.» Für den Einzelnen seien solche Angaben nutzlos, sagt Pharmazeut Richard Egger. 3500 Arzneien klassifiziert Andere Länder Europas unternehmen Anstrengungen, Autolenker für den Einfluss von Medikamenten vermehrt zu sensibilisieren und deren Handhabung zu vereinfachen. Das war eines der Ziele von Druid (Driving Under the Influence of Drugs, Alcohol and Medicines), einem gross angelegten EU-Projekt, das 2006 gestartet worden war und Ende 2011 abgeschlossen wurde. 19 Staaten der Europäischen Union waren an Druid beteiligt. Die Schweiz war über die Beratungsstelle für Unfallverhütung zwar angeschlossen, doch in die Hauptprojek te war sie nicht eingebunden. Im Teilprojekt zu den Medikamenten haben Pharmazeuten verschiedener europäischer Universitäten gemeinsam ein Klassifizierungssystem erarbeitet und dabei 3500 Arzneien auf die Frage hin untersucht, ob und wie jedes einzelne die Fahrtüchtigkeit beeinflusst. Bei experimentellen Versuchen mit Medikamenten diente Alkohol als Referenz, das heisst: Die Probanden schluckten entweder ein Placebo, eine bestimmte Dosis eines Medikaments oder eine definierte Menge Alkohol. Anschliessend mussten sie am Lenkrad vorgegebene Manöver absolvieren – einem anderen Auto folgen, Hindernissen ausweichen oder abrupt bremsen. Dabei wurden sowohl ihr automatisiertes Fahrvermögen – die im Stammhirn «abgelegten» Fertigkeiten – als auch das (durch die Hirnrinde kontrollierte) aktuelle Können am Steuer geprüft. Aufgrund dieser Daten teilten die Forscher alle Arzneien in vier Kategorien von 0 bis III ein. Kategorie 0 bedeutet: Das Medikament ist sicher zum Autofahren. Kategorie I heisst minimer Einfluss auf die Fahrtüchtigkeit, Kategorie II moderater und Kategorie III schwerwiegender Einfluss auf die Fahrtüchtigkeit. Rund die Hälfte der innerhalb von Druid klassifizierten Arzneien fiel in die Kategorie 0. Der Kategorie I wurden 26 Prozent der Medikamente zugeordnet, der Kategorie II 5,8 Prozent und der Kategorie III 4,4 Prozent. Rund 7 Prozent der Medikamente liessen sich nicht klassifizieren. Diese Zertifizierung wird in den Ländern der EU nun eingeführt, und zwar mit augenfälligen Piktogrammen – von Grün über Gelb und Orange bis Rot –, die auf die Medikamentenpackungen aufgeklebt werden. Dazu stehen je nach Gefährdungsstufe die passenden Aufforderungen: «Seien Sie vorsichtig», «Seien Sie sehr vorsichtig», «Gefahr: Fahren Sie nicht Auto». Ausserdem werden die Apotheken mit einem Computerprogramm ausgestattet, mit dem sie die Information für ein Medikament auf Knopfdruck abrufen und die entsprechende Etikette ausdrucken können. Mehr noch: Die abgebenden Stellen, also auch Ärzte, sind verpflichtet, bei einem Produkt den Einfluss auf die Fahrtüchtigkeit den Kunden zu kommunizieren und dies schriftlich festzuhalten – für den Fall, dass die Information juristisch relevant werden sollte. Zuständigkeit unklar In der Schweiz fehlen solche Daten gänzlich. «Sinnvoll wäre es, die Resultate aus Druid auch hierzulande zu verwenden und die Medikamente entsprechend zu kennzeichnen», meint Chefapotheker Richard Egger. Auf diese Idee angesprochen, reagieren die Schweizer Gesundheitsbehörden jedoch ratlos. Swissmedic-Mediensprecher Daniel Lüthi sagt, dieses Thema falle nicht in den Kompetenzbereich von Swissmedic, sondern in jenen der Kantone. Beim Bundesamt für Gesundheit fühlt sich niemand für das Labeling von Medikamenten zuständig, das sei – wenn schon – die Aufgabe von Swissmedic. Zudem gebe es ja die Fachstelle Alkohol und Drogenprävention im Strassenverkehr ASN. Dort kennt man Druid aber genauso wenig wie bei den anderen angefragten Stellen. Aber eine solche Klassifizierung würde man grundsätzlich «sehr begrüssen». Arzneimittel Das unterschätzte Risiko im Strassenverkehr Medikamente ermöglichen es vielen Menschen, dass sie sich überhaupt ans Steuer setzen und im Verkehr bewegen können. Dies gilt aber nur, «sofern etwaige Wirkungen und Nebenwirkungen nicht verkehrsrelevante Einschränkungen hervorrufen», wie die Fachstelle Alkohol- und Drogenprävention im Strassenverkehr festhält. Denn beim Autofahren können Arzneien genauso ein Problem sein wie Alkohol und illegale Drogen. Wer zum Beispiel unter dem Einfluss eines Beruhigungsmittels einen Unfall verursacht, macht sich strafbar. Zu den kritischen Medikamenten gehören aber nicht nur Schlaf- und Beruhigungsmittel, sondern eine ganze Reihe von Arzneien: Antihistaminika (Mittel gegen Heuschnupfen),
Antiepileptika, Psychopharmaka (vor allem Antidepressiva und Neuroleptika), zahlreiche Blutdruckmittel, Antidiabetika, Augentropfen, Migränemittel, Medikamente gegen Muskelverspannungen, Erkältungsmittel, Kortison, Appetitzügler und andere mehr. Diese Medikamente wirken häufig sedierend oder euphorisierend, verursachen Sehstörungen, machen müde und verwirrt, schläfrig und apathisch. Vor allem die Kombination mehrerer Medikamente oder zusammen mit Alkohol kann problematisch sein. Sogar harmlose Erkältungsmittel wie Pretuval C oder Neo Citran haben «verkehrsrelevante » Nebenwirkungen. In der Schweiz konsumieren schätzungsweise 15 Prozent aller Menschen regelmässig Medikamente, welche die Fahrtüchtigkeit beeinflussen. Die Altersgruppe der 45- bis 65-Jährigen betrifft das Problem am meisten. Geschätzt 170 000 Menschen verwenden Medikamente missbräuchlich. (I.D.)