«Provokant ausgedrückt, plant Couchepin den Staatsstreich von oben ?»
«Provokant ausgedrückt, plant Couchepin den Staatsstreich von oben ?»
SZ Interview von Markus Schär mit Hans Heinrich Brunner vom 26.04.2009 über das «raffinierte Spiel» des Gesundheitsministers, mit den Praxisgebühren und der Komplementärmedizin.
Herr Brunner, Sie haben mich gewarnt, Sie seien seit Ihrem Austritt aus dem Bundesdienst nicht weniger verärgert. 
Ja, aber im Gesundheitswesen kann man sich eigentlich nicht mehr ärgern, sondern nur noch wundern über das Ausmass an Verlogenheit und Hilflosigkeit, das wir erleben.      
Gegenwärtig herrscht wieder eine grosse Aufregung wegen des Prämienaufschlags von weit über zehn Prozent, der im Herbst droht.
Es war ja zu erwarten, dass es so weit kommt. Sie können nicht jahrelang ein Kostenwachstum von vier bis fünf Prozent zulassen, aber die Prämienanpassung verbieten, ohne dass das System irgendwann implodiert. Auf Anordnung von Couchepin mussten die Krankenkassen ihre Reserven abbauen, also das Tafelsilber verscherbeln. Aber das Geld hat eine Eigenschaft: Es lügt nicht, letztlich ist ein Franken ein Franken. Diese Wahrheit hat Couchepin eingeholt. Anderseits nützt er wie alle das Tohuwabohu für seine Ziele aus.
Wie?
Jeder setzt ja gegenwärtig bei den Prognosen für den Prämienschub noch einen drauf. Aber woher wissen eigentlich alle, wie stark die Prämien im Herbst steigen? Das Bundesamt für Gesundheit macht jeweils Prognoseberechnungen, damit kann es die Kostenentwicklung relativ gut abschätzen. Aber diese Zahlen liegen noch gar nicht vor. Ich vermute deshalb, Couchepin treibt ein raffiniertes Spiel.
Indem er sich dem Entrüstungssturm aussetzt?
Ja, er sieht ein, dass sich seine Schönwetter-Politik nicht mehr halten lässt. Und wenn er schon einen Prämienschub ankündigen muss, dann gleich einen massiven. So lassen sich staatliche Eingriffe rechtfertigen: Provokant ausgedrückt, plant Couchepin den Staatsstreich von oben.
Und davon lenkt er ab, indem er den Streit um die Praxisgebühr anzettelt?
Ja, Couchepin wusste, dass sich die ganze Meute auf diese 30 Franken stürzen würde, die wir pro Arztbesuch bezahlen sollen. Es ist auch eine zweifelhafte Massnahme; die Praxisgebühr würde, bei fraglichen Einsparungen, einen bürokratischen Aufwand ungeahnten Ausmasses auslösen. Wegen dieser Aufregung bemerkte niemand, was Couchepin eigentlich anstrebt: Er will beispielsweise die Taxpunktwerte und damit de facto die Ärzteeinkommen selber festlegen. Das führt aber zu einer kalten Verstaatlichung des Gesundheitswesens. Couchepin regiert wie einer dieser vielen Bonsai-Sarkozys.
Sie trugen die Verantwortung für die Krankenkassen-Politik, als er angesichts kaum steigender Prämien seinen Erfolg feierte. Fühlen Sie sich mitschuldig am Scheitern?
Nein. Ich sagte immer, das Abbauen der Reserven bei den Krankenkassen sei der falsche Weg, zum Ärger von Couchepin. Das förderte die gegenseitige Zuneigung nicht; er mag keine Leute, die ihm widersprechen. Im Bundesamt konzentrierte ich mich auf die Projekte zum Kostensparen. So gelang es uns, die Medikamentenpreise marktwirtschaftlich markant zu senken. Aber nach meiner Zeit verfiel das Bundesamt wieder ins Administrieren.
Die Abstimmung vom 17. Mai verdanken wir Ihnen. Sie strichen die Alternativmedizin aus den Grundleistungen, die die Krankenkassen bezahlen müssen.
Ja, wir sind danach weltweit ein einzigartiger Staat, in dessen Verfassung steht, dass die Komplementärmedizin durch die obligatorische Krankenversicherung zu bezahlen ist. In zwanzig Jahren reiben sich wohl alle die Augen: Was haben wir uns dabei gedacht?
Schmerzt es Sie, dass das Volk die Vorlage voraussichtlich annimmt?
Nein. Derzeit herrscht nun einmal eine riesige Nachfrage nach alternativen Methoden. Und was die Kosten angeht, macht dieser Entscheid nichts aus.
Wie bitte? Sie wollten doch mit dem Entscheid gegen die Komplementärmedizin gerade Kosten sparen.
Meine Lieblingsgeschichte geht so: Ein Patient kam mit einer Lungenentzündung ins Spital, und ich fragte ihn, wer ihm sein ungeeignetes Medikament verschrieben hatte. Wie er erzählte, liess der Arzt über fünf Medikamenten ein Pendel schwingen und sagte dann plötzlich: «Spüren Sie es? Hier fliesst die Energie!» Der Patient spürte nichts, ausser dem festeren Händedruck des Doktors. Was glauben Sie, wie der Arzt diese Behandlung verrechnete? «20 Minuten Konsultation» – dies in der Annahme, dass er korrekt abgerechnet hat.
Sie warnen seit je, wir müssten die immensen Möglichkeiten der Medizin und die limitierten Mittel des Staates ins Gleichgewicht bringen.
Ja, wir stehen vor medizinisch-technischen Entwicklungen, die ein solidarisches Gesundheitssystem sprengen. Es drohen 
nicht mehr nur Prämienschübe von 10 Prozent, sondern von 20 bis 30 Prozent; das können wir nicht mehr auffangen.
Was bedeutet das?
Wir kommen nicht um eine Priorisierung herum. Die Medizin ist teuer, aber wir müssen selbstverständlich den Zugang zu lebenswichtigen Behandlungen für alle sicherstellen, wenn wir an unserer Tradition des sozialen Ausgleichs festhalten. Wer dagegen besondere Mittel und Methoden wünscht, die nur eine Minderheit will, soll selber dafür aufkommen. Wir brauchen deshalb viel mehr Markt, also Wahlfreiheit in der Grundversicherung. Weshalb soll Professor Beda Stadler die Komplementärmedizin mitbezahlen, die er bekämpft?
Die Abstimmung zeigt ja gerade, dass die Leute nicht einmal auf Alternativmethoden verzichten, die sie für 2.60 Franken im Monat in der Zusatzversicherung bekommen.
Niemand will mehr Markt, die Patienten wohl am wenigsten. Es ist ja am bequemsten, sich einmal im Jahr über die Prämien aufzuregen und danach im Gesundheitswesen überall hineinzulaufen wie in einen Supermarkt ohne Kasse, alles auf Kosten der Solidargemeinschaft. 
Aber es geht nicht so weiter.
Es ist bei uns wie in der k. u. k. Monarchie: Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst. Das sahen Sie auch beim Gipfeltreffen diese Woche. Es gab nicht den Hauch eines Willens zum Konsens. Denn alle leben ja gut mit diesem Zustand; medizinisch gesprochen, besteht überhaupt kein Leidensdruck.
Sonntagszeitung / Markus Schär vom 26.04.09
 
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